Ich bin keine zehn Minuten an Bord der Mein Schiff 4 und bereits ziemlich überfordert. Vor lauter Aufregung habe ich meine Chipkarte verloren. Ein Duplikat muss her. Wo bekomme ich das nur? Zudem fällt mir die Orientierung auf dem Schiff schwer. Zugegeben: Mein Einstand ist holprig. Doch nach einem Tag fühle ich mich pudelwohl an Bord. Nach dem zweiten wie zu Hause.
Der Reihe nach: Ich bin eben erst an Bord der Mein Schiff 4 gegangen und stehe nun ziemlich bedröppelt vor meiner Kabinentür. Die Chipkarte, welche ich beim Check-in im Hafen Kiel erhalten habe, ist fort. Spurlos verschwunden. Im Lift – ich muss mir ein Duplikat organisieren – wird die Lage noch prekärer. Ich frage einen schicken Hanseaten, der neben mir im Aufzug steht, wo denn die Rezeption sei, also in welchem Stock, ich hätte meinen Zimmerschlüssel verloren. Er, allerdings sehr freundlich: „Das heißt nicht Stock, sondern Deck. Das Zimmer ist eine Kabine und Sie fragen an der Rezeption auf Deck 3 bitte nach einer neuen Bordkarte. Viel Spaß auf Ihrer ersten Kreuzfahrt!“
Alles klar. Das sitzt. Man hat mich auf Anhieb als unsichere Kreuzfahrt-Novizin enttarnt. Vielleicht sollte ich zu meiner Rechtfertigung anmerken, dass ich aus München komme und mich daher vorrangig im alpinen Lebensraum bewege. Mit dem Nautischen und Maritimem hatte ich es bisher so rein gar nicht. Ich kenne keinerlei Fachbegriffe, bin auch kein Segler, mag aber Wasser als Element. Ob ich mich auf dieser schippernden Kleinstadt in den kommenden vier Tagen zurechtfinden werde? Ich bezweifle es. Werde ich mich wohlfühlen? Inklusive Crew befinden sich knapp über 3.000 Personen an Bord. Wie sieht es wohl mit Rückzugsmöglichkeiten aus?
Zurück im Lift: Ein Pärchen steigt zu. Die beiden fachsimpeln über das Schiff als würden sie es schon in- und auswendig kennen. Dabei können sie das gar nicht! Die Fahrt, die ich antrete, nennt sich Vorpremierenfahrt und ist eine Kreuzfahrt, ein Art Probelauf, vor der eigentlichen Jungfernfahrt, also auch vor der Schiffstaufe. Dennoch: Die kennen sich richtig aus. Hanseat zu Pärchen: „Waren Sie auch schon auf der Drei?“ Pärchen: „Ja, wir sind Repeater. Eins bis Drei, wir haben alle durch. Und jetzt die Vier.“ Umzingelt von Profis, von wahren Kreuzfahrt-Experten und Wiederholungstätern stehe ich also im Lift und frage mich insgeheim, ob die Entscheidung diese Reise anzutreten, eine gute war.
Was mich, die ich sonst gerne individuell, auch mal mit Zelt und Rucksack reise, dazu bewogen hat, die Vorpremierenfahrt zu buchen? Meine Neugierde. Ich will herausfinden, warum Kreuzfahrten so boomen, was wohl deren Reiz ausmacht. Meine Vorurteile basieren auf den üblichen Klischees: Kreuzfahrten sind – je nach Schiff – steif oder partylastig. Beides missfällt mir. Ich brauche kein Tamtam und mag es ungezwungen und leger. Die Kürze der Reise war ebenfalls ausschlaggebend. Vier Tage, ideal zum Schnuppern. Außerdem hat mich als glühender Skandinavien Fan die Route angesprochen: Kiel-Kopenhagen-Göteborg-Oslo-Hamburg.
Meine neue Bordkarte erhalte ich umgehend. Endlich in meiner Kabine angekommen, studiere ich eingehend den Schiffsplan und lese noch schnell im Internet die wichtigsten Begriffe nach: Heck, Bug, Steuerbord, Backbord …
Um 18 Uhr läuft die Mein Schiff 4 in Kiel aus. Zum ersten Mal in meinem Leben verlasse ich meine Heimat auf dem Seeweg. Ich genieße das Spektakel mit zahlreichen anderen Passagieren auf Deck 12. Im Anschluss gönne ich mir dem Anlass entsprechend ein Glas Champagner in der Waterkant-Bar ehe ich im Restaurant Atlantik-Klassik diniere.
Die Vorstellung, dass wir morgen früh bereits in Kopenhagen anlegen werden, macht mich selig. Ich erfahre einen Ortswechsel über Nacht, reise ganz entspannt von Deutschland nach Dänemark. Ohne lästiges Kofferpacken. Ohne anstrengende Auto- oder Bahnfahrt. Mir steht kein strapaziöser Flug auf einem engen Sitz bevor. Stattdessen wartet eine lange, geruhsame Nacht auf mich.
Nach dem Aufstehen werde ich in aller Ruhe das Frühstück in der gemütlichen Backstube am Anckelmannsplatz auf Deck 12 einnehmen. Kopenhagen wird mir aus dieser Höhe regelrecht zu Füßen liegen. Vergnüglicher kann man sich einem Ort wohl nicht annähern.
Überhaupt: Das langsame Ankommen in einer Stadt über das Wasser fasziniert mich vom ersten bis zum letzten Tag. Alleine deshalb lohnt sich eine Kreuzfahrt. Andererseits empfinde ich auch das Ablegen, was ja streng genommen ein Abschied ist, als einen feierlichen Höhepunkt. Als die Mein Schiff 4 am Abend des dritten Tages den Hafen von Oslo in der milden Abendsonne verlässt, ziehe ich ernsthaft in Erwägung, die Verabredung zum Abendessen platzen zu lassen. Zu schön sind die Momente, die ich jetzt an Deck erleben darf, während unser Schiff an zahlreichen kleinen Schäreninseln, auf denen bunt gestrichene Holzhäuser stehen, vorbeischippert. Ein kleines Glas Wein in der Hand genieße ich die zauberhafte Atmosphäre, die ich in einem amateurhaftem Handyvideo versuche für die Ewigkeit zu konservieren.
Kopenhagen kenne ich bereits ein wenig, weshalb ich die Stadt auf eigene Faust erkunde und mich einen Tag lang treiben lasse. Für Göteborg allerdings – ich betrete erstmals schwedischen Boden – buche ich eine E-Bike-Tour, die vom Exkursionsteam der Mein Schiff 4 geleitet wird. Obwohl es zeitweise regnet, macht mir die Fahrt durch die zweitgrößte Stadt Schwedens richtig Spaß. Erst radeln wir auf den Hausberg von Göteborg, von wo aus wir einen tollen Blick auf die City haben. Später strampeln wir durch das Stadtzentrum und passieren zahlreiche Sehenswürdigkeiten, ehe wir durch die verwinkelten Gassen des berühmten Haga-Viertels fahren. Für Oslo, meine absolute Lieblingsstadt, buche ich eine geführte Wanderung durch Oslos geheime Ecken. Auf dem mehrstündigen Spaziergang ab Nydalen entlang des Flusses Akersvela staune ich nicht schlecht als wir tosende Wasserfälle auf dem Weg ins Stadtzentrum passieren: So viel Natur mitten in der Stadt!
Der abschließende Schiffstag mit Kurs auf Hamburg kommt mir, obwohl ich gerne aktiv bin, sehr gelegen. Ich will einen auf Faultier machen, nichts planen, das Schiff mit seinen Annehmlichkeiten genießen, vielleicht im Pool schwimmen, endlich ein paar Stunden im SPA relaxen und und und. Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Ich lade mir nämlich die Mein Schiff WebApp inklusive mobilem Kunstguide auf mein Samrtphone und tausche Sauna gegen Kunstrundgang. Dazu muss man wissen, dass die Mein Schiff 4 ein schwimmendes Museum ist. Ganze 6.000 Exponate zeitgenössischer Kunst sind, verteilt auf Restaurants, Bars und andere öffentliche Plätze, an Bord zu sehen. Ein Teil der Werke sind exklusive Auftragsarbeiten. Auf meinem zweistündigen Rundgang entdecke ich dabei wahre Schätze: Graffitikünstler DAIM hat auf dem ganzen Schiff farbenfrohe Wandarbeiten gestaltet. Grandios auch die Schwarzweiß-Fotos der norwegischen Fotografin Marianne Lind, welche man im Treppenhaus B bestaunen kann. Oder die große rosarote Brille in der Arena. Die sympathischen, dickbäuchigen Eichenholzfiguren von Jonas Kötz aus Hamburg sind auf das ganze Schiff verteilt. Beim Anblick der pummeligen Figuren mit ihren Knubbelnasen muss ich grinsen.
Sie passen so wunderbar auf das Schiff und bilden – wie ich finde – eine naheliegende Überleitung zum großen Thema „Genuss und Kulinarik an Bord“. In vier Tagen ist es natürlich unmöglich, die 11 Restaurants und 13 Bars bzw. Lounges an Bord zu testen. Was ich aber sagen kann: Die Vielfalt und Qualität des Angebotes beeindrucken mich enorm. Außerdem verteilen sich die Passagiere auf die unterschiedlichen Restaurants, weshalb ich – entgegen meiner Befürchtung – immer ein ruhiges Plätzchen zum Essen finde. Meine größte Sorge, dass ich schon nach vier Tagen aussehe wie die dicken Holzmännchen von Jonas Kötz, erweist sich Gottlob als völlig unbegründet. Gerade wegen des Überangebotes fällt es mir erstaunlich leicht zu verzichten.
Oder besser gesagt: Ich schränke mich ein, genieße ganz bewusst und esse nur noch das, worauf ich richtig Lust habe. Mit der Frage „Wo esse ich heute was?“ beschäftige ich mich daher täglich eingehend. Einmal gönne ich mir den Besuch im Surf & Turf-Steakhouse, das nicht im Alles Inklusive Paket enthalten ist. Und es lohnt sich. Das Filetsteak vom Wagyu-Rind ist ein Gedicht. Das Dänische Rauchsalz, das man mir dazu reicht, gibt dem butterzarten Fleisch ein ganz besonderes Aroma.
Anders als auf allen meinen bisherigen Touren erlebe ich den Höhepunkt der Reise als sie endet. Für die Hafeneinfahrt in Hamburg stelle ich mir extra den Wecker. Ab 4 Uhr morgens stehe ich am höchsten Punkt der Mein Schiff 4, dem Ausguck über Deck 15 und lasse mich von der Szenerie überwältigen. Während sich die frühe Morgensonne am Himmel im Wasser spiegelt, erkenne ich am Horizont die Silhouette der City. Heimkommen war noch nie so zauberhaft wie jetzt. Ich bin so richtig angekommen, auch auf dem Schiff. Ich werde ein Repeater.
Die freie Autorin Johanna Stöckl war 2016 das erste Mal auf einer Kreuzfahrt.